Des Mannes Stärke ("Vernunft-Bild"), 1813

Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (1751-1829)

Tatsächlich handelt es sich bei dem jetzt erworbenen „Vernunft-Bild“ um eines der wichtigsten Motive im Schaffen von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein. Der aus Hessen stammende klassizistische Künstler lebte zwischen 1779 und 1799 überwiegend in Italien. Weithin bekannt ist seine Freundschaft mit Johann Wolfgang von Goethe, dessen berühmteste bildliche Darstellung „Goethe in der römischen Campagna“ 1787 von Tischbein geschaffen wurde. Etwa zeitgleich mit dem ikonisch gewordenen Goethe-Gemälde entwickelte der Künstler in Rom die Idee zu einer allegorischen Komposition, die er wechselweise „Des Mannes Stärke“, „Kastor und Pollux“ oder „Vernunft-Bild“ nannte. In seiner „Italienischen Reise“ besprach Goethe im Abschnitt zum 7. November 1786 eine Vorzeichnung Tischbeins mit dem „Mann […] als Pferdebändiger und allen Thieren der Erde, der Luft und des Wassers.“

Unsere Neuerwerbung zeigt die ausgearbeitete Komposition mit dem Menschen als Herrn der Schöpfung, der sich das Tierreich durch seine überlegene Vernunft untertan macht: Zwei nackte, kräftige Männer reiten über eine Anhöhe, von der aus sie eine bis zum Meer reichende Landschaft überblicken. Die Pferde und den Hund haben sie sich als Haustiere dienstbar gemacht, die Raubtiere dank der Erfindung von Waffen erlegt. Der Rechte, der mit einer Lanze bewaffnet ist, schleift einen Löwen, den König der Tiere, hinter sich her; der Linke, der Pfeil und Bogen trägt, hat einen Adler, den Herrscher der Lüfte, auf dem Rücken festgebunden. „So ist im Bilde mit wenigen Worten ausgesprochen, dass der Mensch durch die Gabe der Vernunft Herrscher über alle Geschöpfe ist,“ hielt Tischbein später nicht ohne Stolz in seinen Lebenserinnerungen fest.

1787 führte Tischbein das „Vernunft-Bild“ erstmals als Gemälde aus, dieses Werk befindet sich heute in der Gemäldesammlung des Frankfurter Goethe-Museums. Dass der Künstler das „Vernunft-Bild“ als eines seiner wichtigsten Bildfindungen ansah, zeigt sich daran, dass er selbst später noch mehrfach Wiederholungen und Varianten geschaffen hat. Unsere Gouache aus dem Jahr 1813 zeigt einige Änderungen gegenüber der ursprünglichen Komposition von 1787. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass Tischbein 1808 ein Angebot des späteren Großherzogs von Oldenburg angenommen hatte, als Hofmaler und Galeriedirektor in dessen Neben-Residenzstadt Eutin zu kommen, dem „Weimar des Nordens“. Die Neufassung des „Vernunft-Bilds“ deckte sich besser mit den Vorstellungen von Tischbeins neuem Dienstherrn – unsere Neuerwerbung ist also eine direkte Vorläuferin der großformatigen Oldenburger Gemäldefassung von 1821. Das Werk ist damit ein besonders interessanter Baustein in der Entwicklungsgeschichte dieses wichtigen klassizistischen Künstlers.